Modul II Willkür und Verrechtlichung

Diktaturen sind Ordnungen, die bürgerliche Freiheitsrechte einschränken, wenngleich sie sich auf den Gedanken der Volkssouveränität berufen und sich für den Ausdruck des wahren Volkswillens halten. Partizipatorische und repressive Elemente korrespondieren miteinander: Man hat Erfolg, wenn man sich unterwirft, und man wird bestraft, wenn man widerspricht. Herrschaft wird in Diktaturen zwar auch durch freiwillige Anerkennung und Wohlfahrtsversprechungen durchgesetzt, aber keine Diktatur wäre ohne Repressionen überlebensfähig. Drohungen, Verhaftungen, die öffentliche Aufführung von Gewalt- und Stigmatisierungspraktiken sind dabei auch Mitteilungen an jene, die sich nicht widersetzen. Die abschreckende und einschüchternde Wirkung der Repression halt die Gesellschaft im Zaum. Im besten Fall fügen sich die Menschen auch ohne Sanktionierung den Vorgaben von oben, weil sie wissen, was die Folgen sind, die sich aus Kritik und Dissens ergeben.

Sowohl in der Sowjetunion als auch in der DDR veränderte sich der Charakter der Repressionen im Laufe der Zeit. Mit der Entstalinisierung unter Nikita Chruschtschow wandte sich das sowjetische Regime vom willkürlichen Terror ab und gab den Repressionen einen stärker gesetzlichen Rahmen. Die Gewalt wurde gleichsam verrechtlicht und damit berechenbarer. Auch in SBZ und DDR waren die Verfolgungen anfangs besonders bedrückend, es kam zu Massenverhaftungen, Deportationen und drakonischen Bestrafungen. Später wurde der Handlungsspielraum der Sicherheitsorgane eingeschränkt; die Mitarbeiter wurden nach und nach darauf verpflichtet, die „sozialistische Gesetzlichkeit“ einzuhalten. Auch die Rigidität der Bestrafung, messbar an den Haftgründen, der Zahl der Todesurteile oder der Dauer der Inhaftierung, nahm im Laufe der Jahre ab.

Lässt sich für das SED-Regime eine Entwicklung von Willkür zur Verrechtlichung empirisch belegen? Und: Was bedeutet diese gegebenenfalls für das Verständnis kommunistischer Regime? Können Diktaturen, die in ihrer Durchsetzungsphase besonders brutal waren, später auf die Anwendung exzessiver Gewalt verzichten, weil sie die Gesellschaft ausreichend eingeschüchtert haben? Oder funktionieren Diktaturen in modernen Industriegesellschaften nur, wenn sie berechenbar, also nach Maßgabe objektiver Normen handeln? Waren es möglicherweise gerade die Mitglieder des Führungskreises und die untergeordneten Funktionäre, die nach größerer Erwartungssicherheit strebten? Oder ist die Ursache für die Selbstzähmung kommunistischer Diktaturen schlichtweg in der Tatsache zu suchen, dass das Spitzenpersonal in den späteren Jahren vielfach das Rentenalter überschritten hatte und die jüngeren Funktionäre der unmittelbaren Gewaltausübung entwöhnt waren? Sollte die Selbstverpflichtung auf die eigenen Rechtsnormen, wie oft behauptet, womöglich vor allem aus externen Gründen erfolgt sein, weil allzu offensichtliche Rechtsbrüche in der westlichen Öffentlichkeit und bei westlichen Partnern zu Kritik geführt hatten?

Zurück

Beteiligte Personen

Beteiligte Institutionen

image_preview.png

index.png